Menschenbild

Was uns einschränkt

… und wie wir lernen, damit umzugehen. Ein systemischer Blick auf Ambivalenzen, Zielkonflikte und Restriktionen.

Von Anita Heyer

In meinen Ausbildungsseminaren zeige ich regelmäßig ein Video, in dem Dr. Gunther Schmidt mit einer Klientin arbeitet, die das Ziel hat, die Heilpraktiker-Prüfung zu machen,und nicht in die Gänge kommt. Wenn ich dann erzähle, dass die Klientin NLP-Trainerin ist, werde ich häufig gefragt: „Wie kann das sein, dass die NLP macht und ihr Ziel nicht erreicht?“
Anfangs war ich fassungslos und dachte nur: „Sind die verrückt, glauben die, wir NLP-Trainer wären immun gegen das Leben?“ Bisweilen scheinen Menschen zu glauben, dass bei NLP-Anwendern Krankheit weniger tödlich und Liebeskummer weniger schmerzhaft ist und dass deren Familien in immer währender Harmonie leben. Weit gefehlt.
Das, was ich im Leben mit „Restriktionen“ bezeichne, wird im Buddhismus als die acht weltlichen Geschehnisse benannt, die unser Menschsein begleiten, die da wären:
• Glück –Unglück
• Gewinn – Verlust
• Ruhm – Verleumdung
• Lob – Tadel
Auch wenn NLP bisweilen den Glauben nährt, dass wir uns nur auf der „linken“ Seite bewegen, scheint es mir eher so, dass wir im Umgang mit der „rechten“ Seite (den Restriktionen) durch NLP das lernen können, was Rudolf Nurejew einmal über das Ballett gesagt hat: „Es wird nie leicht. Es wird lediglich möglich.“
So geschah es einer Familie, deren Kind erkrankte. Die Ärzte diagnostizierten, dass es sich um eine unheilbare, chronische Krankheit handelt, die jedoch mit Medikamenten behandelbar ist. Der Jugendliche erhielt hohe Dosen von Kortison, nahm zwölf Kilo ab, bekam während der Abi-Prüfung einen Schwächeanfall, so dass man beschloss, dass er das Schuljahr wiederholen sollte. Da keine Besserung eintrat, empfahl der behandelnde Arzt einen Therapeuten aufzusuchen.
So wurde ich gebeten, mit einem Jugendlichen zu arbeiten, der sagte: „Zur Therapie gehen doch nur Bekloppte, und wenn ich das mache dann denken alle, ich hätte mir die Krankheit nur eingebildet.“ Ich näherte mich mit äußerster Vorsicht, indem ich ihm erzählte, wie ich mit meinen erwachsenen Klienten arbeite: „Weißt du, wenn zum Beispiel jemand zu mir kommt und sagt, er sei depressiv, dann sage ich ihm, dass sei er doch nicht als ganzer Mensch. Ich würde ihm doch nicht gerecht werden, wenn ich sagte, er wäre immer so. Es sei doch lediglich so, dass das nur eine Seite von ihm wäre, die sich ab und an so zeige. Und er habe noch viele andere Seiten, die sich ganz anders zeigen.“
Und dann erklärte ich meinem jugendlichen Klienten, dass diese Art das Symptom zu beschreiben immer eine erleichternde Wirkung habe und falls er sich entschließe, mit mir zu arbeiten, dann würde ich mit ihm genau so vorgehen. Ich würde ihm anbieten, mit ihm ebenso von dieser Seite zu sprechen, die die Krankheitssymptome zeige. Und dass es da noch eine andere Seite gebe, die stinksauer auf diese Seite ist, weil sie ihm das Abitur vermasselt hat und zurZeit dafür sorgt, dass er abends mit seinen Eltern auf der Couch sitzt, statt mit seinen Freunden auszugehen.
Der Junge war ganz angetan von diesem Gedanken-Modell und ich hatte meinen Auftrag!
Wir etablierten dann, dass er der Trainer einer Mannschaft sei und er sich zurzeit intensiv um zwei Spieler zu kümmern habe. Der eine sei Mannschaftsführer, stark und zielstrebig, und der andere zeige Krankheitssymptome und könne gerade nicht so, wie er wolle. Ihm als Trainer komme die Aufgabe zu, achtungsvoll mit den Bedürfnissen aller Spieler umzugehen, damit zum Saisonauftakt alle wieder dabei seien. Allerdings bleibe zu berücksichtigen, dass keiner wisse, wann die Saisonwieder losgehe, denn das ganze System brauche seine Zeit.
Die Spieler erhielten dann Namen: Karl, der kranke, der die Symptome zeigte und Stephan, der starke. Wir führten dann noch eine Skala ein, die beschrieb, wie belastend von 0 – 10 die Symptome waren, und überlegten gemeinsam, was hilfreiche Aktionen sein könnten, um die Belastung zu verringern. Mein Klient verstand, dass er als Trainer und Coach die Verantwortung für seine Spieler hat, dass er die steuernde Instanz für das Miteinander aller ist und es ihm obliegt, wie er den Umgang mit diesen Seiten, deren unterschiedlichen Zielen und somit den Zielkonflikten gestaltet.
Von da an informierte er mich über die Konflikte, die Karl und Stephan miteinander austrugen, und in die er steuernd eingriff. Ich unterstützte ihn im Umgang mit all seinen Ambivalenzen Karl gegenüber, denn es war klar, dass Karl derjenige war, der unbedingt mit ins Boot musste. Und so gelang es meinem Klienten mehr und mehr, nicht in einseitige Koalition mit Stephan zu gehen, sondern beide Seiten gleichermaßen zu schätzen und Sorge zu tragen, dass sie all ihre Bedürfnisse erfüllen können. Außerdem erreichten mich regelmäßige Skalen-Berichte über die Symptome, die mich mal erschütterten, mal berührten und dann auch wieder freuten. Die ärztliche Behandlung hat mittlerweile Erfolg gezeigt und vor einigen Wochen erreichte mich die SMS: „Führerscheinprüfung bestanden!“
Letztlich lässt sich Erfolg an unserem Umgang mit Enttäuschungen messen. Immer wieder. Auch wenn es bisweilen so scheinen will, als hätten andere eine gute Fee, die gerne Überstunden macht, während unsere eigene vorzeitig in Rente gegangen ist. Leben ist das, was ist, und das ist nicht immer das, was wir uns wünschen, doch unser„Erleben“ ist das, was wir tätig gestalten können.
Im Umgang mit Restriktionen, wie Unglück und Verlust, können wir Beschreibungen wählen, die das Erleben erleichtern, oder wir können es so machen, wie Wendell Berry es so treffend formulierte: „Wir bestimmen unsere Vergangenheit selbst. Wir können danach streben ihr zu entfliehen oder dem, was an ihr schlecht war. Aber wir entkommen ihr nur, wenn wir ihr etwas Besseres hinzufügen.“

Anita Heyer