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Er meint’s doch nur gut!

Das stimmt. Und doch muss ich nicht nach der „positiven Absicht“ fragen, wenn ich mich mit einem ungeliebten Teil versöhnen möchte.

Verbirgst du deinen Schatten, schwindet dein Licht.
Sprichwort

Von Anita Heyer

 

In meiner Sturm-und-Drang-Zeit waren Encounter-Groups mein Leben. Jedes Wochenende fand ich mich in Selbsterfahrungsgruppen, wie Gestalttherapie, Bioenergetik, Psychodrama, Feeling-Therapie, wieder. In der Hauptsache kloppte ich auf Matratzen, weinte und schrie Mama, Papa oder den Namen des jeweils aktuellen Ex-Freundes. Ich lebte in Ursache-Wirkungs-Schleifen, wobei klar war, dass die anderen schuld daran waren, dass ich nicht so richtig wusste, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Manchmal sehne ich mich zurück in diese Zeit der Unschuld.

Dann landete ich unverhofft in einem NLP-Basiskurs. Ich wurde eingeladen, saß da und war maßlos überfordert. Ziele-Arbeit! Ziele hatte ich keine, nur einen Haufen Probleme. Und so betrachtete ich NLP als neumodisches, amerikanisches Höher-Schneller-Weiter-Zeug.

Doch dann geschah es. Die Trainerin kündigte eine Technik an, mit der man Symptom-Verhalten, also alles, was man an sich selbst problematisch finde, verändern könne und man brauche nicht zu sagen, um welches Verhalten es sich handelt. Ich war wie vom Donner gerührt. Ein Modell für Probleme! Blitzschnell saß ich neben ihr auf dem Stuhl der Demo-Person.

Zärtlicher Drachen

Die Trainerin bat mich um ein Referenzwort für mein „problematisches“ Verhalten und ich nannte es „Frust“. Dahinter verbarg sich mein Frust-Fressen, maßlose Fressorgien, durch die ich mich in eine Einsamkeitsspirale futterte, denn ich wurde fetter und fetter und getraute mich weniger und weniger unter Menschen.

Also saß ich da, mit klopfendem Herzen, heilfroh, dass niemand von meinem schrecklichen Verhalten wusste. Und ich erinnere mich an die Frage, ob ich mir vorstellen könne, dass hinter dem Verhalten eine positive Absicht stecke. – „Nein, gar nicht“, war meine Antwort. Persönlich hatte ich den Eindruck, dass dieser Teil mich vernichten wollte! Als ich diesen Teil dann innerlich visualisierte, kam ein riesiger, schwarz-rot glühender Drachen zum Vorschein, aus seinem aufgerissenen, riesigen Maul Feuer speiend. Ich erschrak mich zu Tode, hatte ich doch schon immer gewusst, dass in mir das Böse lebte, und jetzt zeigte es sich!
Ich wandte mich der Trainerin zu und versicherte ihr, dass sich der Teil gezeigt habe, aber dass es unmöglich sei, mit ihm in Kontakt zu treten, da er so riesig schwarz-glühend sei.
Und ganz behutsam und liebevoll hielt sie mich an, den Teil doch etwas kleiner zu machen, ihm eine andere Farbe zu geben und vielleicht auch eine angenehme Temperatur …
Und als ich dann nach innen schaute, siehe da, genau das hatte der Teil verändert, er zeigte sich weich, weiß und kuschelig, anschmiegsam und zärtlich.
Überwältigt heulte ich erst einmal Rotz und Wasser.
Es zeigte sich, dass der Teil „eigentlich“ für mich da sein und für mich sorgen wollte, nur hatten wir bis zu diesem Zeitpunkt ein Kommunikationsproblem gehabt und als dies überwunden war, kamen wir zu neuen Lösungen, die angenehm und sogar ziemlich aufregend waren! In diesem Moment entbrannte meine Liebe zum NLP und sie brennt noch immer.

„Willst du mich verarschen?“

Und so kam es, dass ich als blutjunge, frischgebackene NLP’lerin die Welt mit meinen Six-Step-Reframing-Künsten beglückte. Nur kannte die Welt das Modell nicht und verhielt sich auch nicht entsprechend. Ich sagte zum Beispiel: „Geh‘ nach innen und mach Kontakt mit dem Teil.“ Eine glasklare Anweisung. Und was geschah? Nichts geschah! Gefühlte Stunden verbrachte ich damit, Klienten zuzusehen, wie sie mit geschlossenen Augen nach innen gingen und nichts fanden. Nichts. Ich war fassungslos. Ich selbst sehe ständig einen Breitwand-Kinofilm in Disney-Qualität ablaufen, und es gab Menschen, die in ihrem Inneren leer waren?
Später erst fand ich zu den Fertigkeiten Klienten sprachlich so einzuladen, dass ihnen ein Zugang zu den eigenen „Teilen“ oder „Seiten“ möglich wird. Und natürlich gab es eine Mehrzahl von Klienten, die die positive Absicht plötzlich erkannten und sich tränenreich mit der vormals abgelehnten Seite versöhnen konnten.
Es gab auch kuriose Fälle, wie jener, bei dem es um Rückenschmerzen ging. Die positive Absicht war erkannt, neue Verhaltensweisen gefunden, ein Zeitplan erstellt und es gab auch einen Teil, der etwas gegen die Veränderung hatte (den gibt es fast immer). Dieser Teil wurde freundlich eingeladen, seine positive Absicht gefunden und in die neuen Verhaltensweisen integriert. Auf die Frage, ob es noch einen Teil gäbe, der etwas gegen die Veränderung habe, meldete sich ein weiterer Teil. Auch dieser Teil wurde freundlich eingeladen, seine positive Absicht gefunden und in die neuen Verhaltensweisen integriert.
Abermals fragte ich, ob es noch einen Teil gäbe, der etwas gegen die Veränderung habe und es meldete sich ein weiterer Teil. Dieser Teil wurde schon ein bisschen weniger freundlich eingeladen, seine positive Absicht wurde gefunden und in die neuen Verhaltensweisen integriert. Was soll ich sagen? Beim neunten! einwanderhebenden Teil fragte ich: „Was machen die denn so?“ „Hmm,“ antwortete meine Klientin etwas kleinlaut, „die sitzen in Gruppen und haben Sprecher gewählt.“ Am Ende waren es 16 solche Teile.
Und es gab jene Fälle, wo mir Klienten fast ins Gesicht sprangen, wenn ich mit der positiven Absicht hinter dem Symptom-Verhalten daherkam: „Was, willst du mich verarschen? Die Alkoholsucht soll was Positives haben? Sie hat meine Ehe ruiniert, meine Gesundheit und ich hätte fast meine Arbeit verloren!“ Obwohl ich der Überzeugung war, dass jeder Teil eine positive Absicht hat, fiel es mir manchmal schwer, diesen Gedanken im anderen zu wecken.

Wie reagiert der Teil auf dich?

Schließlich erfuhr ich bei Wolfgang Lenk auf einem Milton Erickson Kongress am eigenen Leib, wie das Six-Step-Reframing erweitert angewandt werden kann.

Zum damaligen Zeitpunkt war ich Raucherin. Und am Abend vor dem Workshop hatte ich mächtig gefeiert, viel getrunken und geraucht. Nach dem Frühstück hatte ich mich soweit erholt und ging auf mein Zimmer, um eine zu rauchen. Sobald ich den ersten Zug machte, hatte ich das Gefühl mich übergeben zu müssen. Ich ärgerte mich maßlos über mich selbst und dass ich so süchtig war. So begab ich mich dann in den Workshop mit mächtigen Kopfschmerzen, Schwindelgefühlen, schlechtem Atem, einem koddrigen Gefühl im Bauch und einer Prise Selbsthass. Das Thema war „Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen“ und Wolfgang fragte, ob jemand im Raum sei, der so etwas wie eine Krankheit oder Sucht habe und sich als Demo-Person zur Verfügung stelle.
Im Griechischen gibt es den Begriff kairos, was so viel bedeutet wie „der richtige Augenblick“, „der günstige Moment“ und da war er. In diesem Moment wanderte meine Hand nach oben und ich hörte mich sagen: „Ja, ich will mit dem Rauchen aufhören.“
Als ich auf der Bühne saß, fragte Wolfgang mich: „Tun wir mal so, als ob es diesen Teil, der für das Rauchen zuständig ist, wirklich gäbe… Wo im Raum wäre er. Wie nah oder wie fern? Vor dir oder hinter dir? Wäre er hier im Raum oder draußen? Wo siehst du diesen Teil? Wo nimmst du ihn wahr? Und als was zeigt er sich?“
Der Teil zeigte sich als Feuerwehrmann, in voller Montur, mit Helm, und stand seitlich vor der Bühne. Wolfgang sagte: „Begrüße den Teil freundlich, zum Beispiel so: Ich sehe Dich, ich nehme Dich wahr.“ Was ich tat. Und dann: „Wie reagiert der Teil jetzt auf dich?“ Der Teil zog seinen Sichtschutz nach oben und schaute freundlich auf mich. Dann: „Wie geht es dir damit? Sage das bitte dem Teil!“

Der Teil als Coach

In diesem modifizierten Six-Step-Modell moderiert der Coach im Wesentlichen das Gespräch, die Verhandlung zwischen dem Klienten und dem Teil, er hält Rapport zu beiden und achtet auf respektvolle, kongruente, konstruktive Kommunikation auf der Seite des Klienten. Der Coach hilft außerdem bei emotionalen Erschütterungen den Kontakt zu dem Teil zu halten.
Und zu keiner Zeit ist die Rede von der „positiven Absicht“ des Teils.
Der Teil soll nicht bekämpft werden, sondern als Ratgeber und Mentor oder, bitteschön, als Coach gewonnen werden. Es herrscht ein Meister-Schüler-Verhältnis. Und so kam es, dass Wolfgang mir einen ungeliebten Teil von mir als Coach andiente und ich fassungslos war: „Was, der …? Der ist doch nur ein Feuerwehrmann!“ Woraufhin Wolfgang meinte: „Der Teil spiegelt deine Beziehung zu dir selbst wider, deine nicht offen kommunizierten Ängste, Vorbehalte, Entwertungen. Der Teil ist unbestechlich, steht über dir, der Teil hat alle Informationen, und er hat keine Probleme – im Gegensatz zu dir.“
Vorsichtig schaute ich zum Bühnenrand und bemerkte mit Schrecken, dass der Feuerwehrmann sein Visier wieder heruntergelassen hatte und sich daran machte, den Raum zu verlassen.
Als Wolfgang mich dann ermutigte meine Angst zu offenbaren, und ich mich schließlich vor dem Feuerwehrmann verneigte, veränderte der seine Gestalt und wurde zu einem väterlichen Dschinn. Wen wundert’s, dass ich wieder einmal Rotz und Wasser heulte.
Ein Dschinn ist ein Fabelwesen aus der arabischen Mythologie, die aus rauchlosem Feuer entstehen, über Verstand und magische Kräfte verfügen und nur in Ausnahmesituationen den Menschen sichtbar werden. Der Dschinn erschien mir von nun an immer dann, wenn ich das Bedürfnis hatte zu rauchen – was ungefähr 20 Mal am Tag der Fall war. Er begleitet mich noch heute als Gesundheitsberater. Zum Beispiel hilft er mir, mich täglich sportlich zu bewegen, er schiebt mich den Berg rauf, wenn ich denke, ich schaffe es nicht. Und, wenn man genau hinsieht, kann man mich auf Partys manchmal mit einer E-Zigarette sehen und dort im Rauch, an meiner Seite, da steht kaum wahrnehmbar, eine große muskulöse Gestalt, die schützend den Arm um mich gelegt hat …

Auf Augenhöhe und in Demut

So arbeite ich in meiner heutigen Praxis, je nach Anliegen des Klienten, einmal mit dem 6-Step als „Seiten-Modell“ (angeregt durch die Arbeit von Gunther Schmidt), in der Art: „Das sind doch nicht Sie als ganzer Mensch, das ist doch mehr eine Seite, die sich unter bestimmten Kontextbedingungen zeigt … und möglicherweise hat sie Kontraktbedingungen unter denen sie zur Kooperation bereit ist … Sie als Führungskraft und diese Seite als Mitarbeiter, die den Antrag stellt …“ Bei dieser Art zu arbeiten geht es mehr um die Begegnung auf Augenhöhe.
Und bei anderen Klienten wechselt die Arbeit in Richtung „Übung in Demut“, anzuerkennen, dass es etwas gibt, das mehr Macht, Weisheit und Größe hat, als man selbst und sich zu verneigen.

Ich bin Wolfgang Lenk dankbar für diesen erweiterten Zugang.

C.G. Jung schrieb: „Die bloße Unterdrückung des Schattens ist ebenso wenig ein Heilmittel, wie Enthauptung gegen Kopfschmerzen (…), die Versöhnung der Gegensätze ist eines der wichtigsten Probleme, das selbst in der Antike einige Geister beschäftigte.“

Erstveröffentlcihung ind der Praxis Kommunikation 05 2017

Anita Heyer, Autorin, Uni-Dozentin, DVNLP-Lehrtrainerin und -Lehrcoach, Heilpraktikerin für Psychotherapie in eigener Praxis. Schwerpunkte: Führungskräfte-, Paar- und Teamcoaching.